Hinter Schloss und Riegel
Publié le :
06/06/2013
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Ein Betrüger treibt ein französisches Adelsgeschlecht in den Untergang. Die Rekonstruktion einer unglaublichen Verführung.
Jahrhundertelang hatte sich die protestantische Adelsfamilie Védrines gegen den in Frankreich dominierenden Katholizismus behauptet. Allen Verfolgungen zum Trotz hatte sie sich im südwestfranzösischen Hügelland rund um die Zitadelle Monflanquin verschanzt. Heute ist das Dorf Monflanquin ein hübscher Touristenort zwei Fahrstunden östlich von Bordeaux. Hier besaß die Familie das Schloss Martel.
Das Vermögen für die nachfolgenden Generationen zu hüten, die Ländereien und das Schloss – « das war der Lebenssinn jedes Familienmitglieds », sagt Philippe de Védrines, ältester Sohn der Matriarchin Guillemette de Védrines und eine Autorität in der Familie. Er ist ein groß gewachsener Mann von 75 Jahren. Das Schicksal hat den Reserveoffizier und ehemaligen Manager der Ölfirma Shell verändert. Heute spricht er mit leiser Stimme: « Wir können den Nachfolgenden nichts mehr weitergeben. »
Er, seine Freundin Brigitte Martin-Loriot und seine zwei Geschwister waren einst Millionäre, heute sind sie fast mittellos. Zusammen mit Philippes Mutter, den Partnern der Geschwister und vier Védrines der Enkelgeneration sind sie einem Betrüger und Manipulator zum Opfer gefallen, der sie zehn Jahre lang zu Marionetten gemacht und ausgeplündert hat. Der Mann heißt Thierry Tilly und stammt aus Paris. Er wurde Ende 2012 für die betrügerische « Ausnutzung persönlicher Schwächen » zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. In diesen Tagen fällt das Berufungsgericht in Bordeaux ein weiteres Urteil.
Wer ist dieser Thierry Tilly? Und wieso verfällt eine große, gebildete Familie einem Menschen, der ihr Böses will? Das Gerichtsverfahren konnte dieses Rätsel kollektiven Wahns nicht vollständig klären. Könnte ein solches Unglück womöglich jedem widerfahren? Kann man diesem Rätsel auf die Spur kommen? Mithilfe von Gerichtsakten, psychiatrischen Gutachten, ungezählten Gesprächen mit allen Opfern, deren Anwälten und Freunden soll dies hier versucht werden. Thierry Tilly, der Täter, war zu keinem Gespräch bereit. Hier die unglaubliche Geschichte der Védrines, ein Drama in fünf Akten.
1. Akt: Annäherung
Das Drama beginnt 1996. Die damals 50-jährige Ghislaine Marchand, geborene de Védrines, leidet unter Depressionen. Sie lebt mit ihrem Mann Jean, einem Wirtschaftsjournalisten, in Paris; er ist arbeitslos. Die Ehe droht zu scheitern, und die Kinder kommen in der Schule nicht zurecht. Nach außen resolut, sucht Ghislaine jemanden, der ihr Halt gibt.
Auch Thierry Tilly, damals 32 Jahre alt, hat ein Problem: Er ist wieder einmal pleite.
Im Herbst 1996 wechselt Ghislaines Tochter auf eine Pariser Privatschule, um sich zur Sekretärin ausbilden zu lassen. Die Schule gerät in Finanznot. Lehrer und Eltern wollen sie übernehmen, vorneweg Ghislaine als kaufmännische Leiterin. Ein Anwalt empfiehlt ihr als Berater « den fabelhaften Monsieur Tilly ». In den Gerichtsakten wird dieser Pariser Anwalt später als juristischer Arm des Betrügers auftauchen. Er stellt sich heute selbst als Opfer von Tilly dar. Belangt wurde er nie.
Tilly stammt aus einem Pariser Vorort; seine Familiengeschichte, soweit bekannt, bietet als einzige Auffälligkeit, dass es Konflikte mit dem Vater gegeben haben muss. Vor Gericht beschreiben ihn Jugendfreunde und Verwandte als Einzelgänger, als ungeschickten, schüchternen, letztlich auch verschlagenen Jungen. Sein beruflicher Werdegang, wenn es denn einen gab, liegt auch für das Gericht im Dunkeln. Es hat nur herausfinden können, dass er bereits zuvor mehrfach wegen Betrugs verurteilt wurde.
Der Schule verschafft Tilly irgendwoher umgerechnet ein paar Tausend Euro. Er überzeugt Ghislaine, gleichfalls zu investieren, sowie größere Summen bei ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder Charles-Henri de Védrines lockerzumachen. Tilly wird für Gebäudereinigung und Schulcomputer zuständig und lässt sich das teuer bezahlen. Außerdem installiert er Überwachungskameras, denn die Schule habe « Gegner ». Tilly redet unablässig, das heißt dann « Beratung » und kostet ebenfalls. « Ich war erleichtert, dass mir jemand beistand », sagt Ghislaine heute und fügt hinzu: « Ich war das trojanische Pferd der Familie. »
Bald geht in der Schule nichts mehr ohne Thierry Tilly. Er wohnt mietfrei in der geräumigen Pförtnerloge, kontrolliert die Finanzen, vergibt Jobs an Leute, die ihm später Handlangerdienste erweisen werden. Und er fragt Ghislaine über die Védrines aus. Sie vertraut ihm Familiengeheimnisse an, erzählt von Eifersüchteleien und Eitelkeiten und enthüllt auch, wer was besitzt. Das Eigentum sei in Gefahr, warnt Tilly. Es gebe Feinde der Familie, die Freimaurer. Über die gehen in Frankreichs Südwesten, wo Logen verbreitet sind, allerlei Verschwörungstheorien um. Man müsse dringend etwas tun.
2. Akt: Machtübernahme
Im Sommer 2000 verbringen Ghislaine und ihr Mann Jean den Urlaub in ihrem Ferienhaus in der Nachbarschaft des Schlosses Martel. Tilly ist mitgekommen. Die anderen Védrines finden den schmalen Mittdreißiger mit der Intellektuellenbrille ausgesprochen charmant. Zielsicher geht Tilly auf die Matriarchin Guillemette de Védrines zu und verspricht ihr Hilfe in einem vertrackten Rechtsfall. Die alte Dame, Jahrgang 1913, ist entzückt.
Die Sommerfrische klingt mit einem Abendessen aus, drei Generationen der Védrines versammeln sich. Tilly beeindruckt mit der Behauptung, er habe ein Büro im Verteidigungsministerium. Philippe, dem Reserveoffizier, gefällt das. Tilly erklärt, das Büro sei aber nur Fassade, in Wahrheit sei er Geheimagent einer supranationalen Organisation mit Verbindungen zur Nato und zu den UN. Die Familienchefin nickt, Ghislaine strahlt, Kinder und Enkel hängen an seinen Lippen. Andere Verwandte berichten später, auf dem Rückweg im Auto hätten sie sich kaputtgelacht. Sie werden Tilly nicht mehr aufhalten. Der Wahn hält bereits Einzug. Philippe geht mit der Überzeugung zu Bett, der neue Bekannte sei der Richtige, das Vermögen der Védrines vor finsteren Machenschaften zu schützen – Tilly hatte ihn beiseitegenommen und von den Freimaurern geraunt.
Source : Die Zeit
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